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Wann kommt das Glück?

Veröffentlicht am 05.06.2020

Von der Biologie und vom Duzen




Ich hatte einen Biologie-Lehrer, der die Schüler*innen immer mit „Du“ ansprach. Er kam also zu seiner ersten Stunde in den Klassenraum und sagte: „Danke. Setze dich bitte.“ So ging es dann munter weiter. „Bitte nimm das Buch und notiere dir…“ Natürlich kamen nach dem ersten Staunen Zwischenrufe wie „Wer? Ich?“ oder „Meinen Sie mich?“ oder „Ich auch?“ Aber nur die erste und zweite Stunde.

Bald war klar, dass unser Lehrer das „Du“ gewählt hatte, damit sich jede einzelne Schülerin und jeder einzelne Schüler angesprochen fühlte. Das Ganze war also ein raffinierter Kniff. Wenn nun jemand beispielsweise die Hausaufgaben vergessen hatte, wurde er nicht oberflächlich getadelt – nein. Auch diese nicht erbrachte Leistung wurde persönlich genommen. Persönlicher als bei anderen Lehrern. „Das finde ich aber schade. Warum hast du es nicht gemacht?“ Dieses „Du“ bezog sich zwar zunächst auf eine einzelne Person, war aber doch auch kollektiv gemeint – im Sinne einer Anklage und Enttäuschung, die alle beträfe.  

Wer sich heutzutage regelmäßig durch die Sozialen Medien klickt, stößt schnell auf Persönlichkeits- und Erfolgs-Coaches, die ebenfalls mit eigenen Mitteln und Maschen der Masse das „Du“ anbieten. „Hast du dich schon einmal gefragt, warum andere so reich sind und du nicht?“ Lockere Bänker-Typen, strenge Gouvernanten, Instagram-Influencer, lachende Immobilien-Millionäre, Online-Broker und Network-Marketing-Gurus buhlen mit „einfachen Tipps und Tricks“ um Aufmerksamkeit und, was sonst, das große Geld.

Bei dem einen werden Bücher „verschenkt“, bei dem anderen, von einer Motoryacht am Strand aus, lachende Menschen übertragen, die in ein wenigen Minuten an ihrem Laptop unter Palmen wieder ein paar Verbindungen und Kauf-Klicks herstellen, um das große Geld und eben Glück zu machen. Glück gleich Geld – ohne diese Gleichung geht es nicht.

Die Corona-Krise bringt in diesen Tagen allerdings auch andere Facetten mit ins Spiel. Wir warten plötzlich wieder. Gezwungenermaßen. Und sind damit bei einer völlig anderen Glücksbeschreibung. Sich das Glück also nicht erarbeiten, sondern erwarten. Geht das?

Statt immer nervöser und hektischer zu werden, kann es richtig sein, alles zum Stillstand kommen zu lassen. Schweigen und warten. Da wir selbst am Leben und im Leben stehen, wird Warten nie aufs Abstellgleis führen. Im Gegenteil. Aktiv warten zu können – auf die richtige Gelegenheit, die richtige Wendung, die richtige Person – ist womöglich das Beste, was man im Leben tun kann. Zumal, wenn einem alle immer erzählen, man müsse sich bewegen. Jetzt. Sofort. Die Zeit läuft.

Glück bedeutet für jeden etwas anderes. In einer alten US-Zeitung stieß ich vor kurzem, während einer Recherche, auf einen Artikel von Suzanne Britt Jordan. Am 14.8.1981 schrieb sie in der Star Tribune Minneapolis über unsere unendliche Sucht nach Spaß, also „Fun“. Alles, so Jordan, müsse heute Spaß machen. Ein Tag ohne Spaß? Eine Tätigkeit oder Freizeitbeschäftigung ohne Spaß? Nein, das ginge nicht. Meistens jedoch, so Jordan, komme Spaß aber dann, „wenn wir ihn gar nicht erwarten. Bei der Arbeit. Oder sogar an einem Dienstag.“

Während sich Spaß managen lässt, auch weil er ja vor allem äußerlich wirkt, ist das mit dem Glück schwieriger. Für Spaß und Kurzweil lassen sich Pläne schmieden, Veranstaltungen und Ablenkungen organisieren. Aber fürs Glück? Glück wirkt innerlich. Wir können es nicht sehen. Nur fühlen. Sie können in einer riesigen Villa mit Swimmingpool, endlosem Garten, acht Schlafzimmern und 14 Bädern stehen und den Besitzern sagen: „Das sieht nach Spaß aus.“ Aber nach Glück? 

Das Glück ist ein See, den wir ein Leben lang umkreisen, von der ersten Sekunde an. Manche sehen ihn später nicht mehr oder werden mit Gewalt von ihm fortgerissen. Manche tragen sein Bild auch in schwersten Stunden in sich. Andere pferchen sich ihre Tage so zurecht, dass sie sein Dasein sprichwörtlich ver-arbeiten und vergessen.

Das Glück, das wir innerlich fühlen, so, dass unser Herz hüpft, kommt dann in Momenten, wo wir es nicht erwarten. Mein kollektiv duzender Biologie-Lehrer erzählte uns öfters vom Glück, in einen „verwurmten und damit garantiert giftfreien Apfel“ zu beißen. Das Glück kann ein Blick sein. Ein Lächeln. Ein Schweigen an der richtigen Stelle. Eine Person, die wir treffen und bei der wir plötzlich spüren, dass wir am Leben sind. Dass wir geliebt werden und, noch wichtiger, selber lieben. Der Moment, an dem wir das „Du“ körperlich und seelisch fühlen. Hier und jetzt. Ganz plötzlich. An einem Dienstag.

(Rüdiger Schmidt-Sodingen)