Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Die schweigende Mehrheit

Veröffentlicht am 01.08.2018

Wie das Geplärre im Netz zu falschen Schlüssen führt



Meinungsäußerungen sind an und für sich eine gute Sache. Wer sich allerdings dieser Tage durch die Online-Kommentare diverser Nachrichtenseiten klickt, stellt schnell fest: Vielfalt sieht anders aus. Zu fast jedem gesellschaftlich relevanten Thema hagelt es Flüche auf die derzeitige Bundeskanzlerin und deren Flüchtlingspolitik oder, zu Nachrichten über größere Nachbarländer, merkwürdige Lobeshymnen auf dortige, hart durchgreifende Präsidenten. Ein Mix aus sich gegenseitig hochschaukelnden, rechten Schimpfern und als Normalbürger auftretenden Dunkelmännern und –frauen, die auf ihren Tastaturen offensichtlich keine Umlaute finden, ballert mit vorgefertigten Meinungen, Verleumdungen und Angriffen alles in Schutt und Asche. Der einsame Online-Zeitungsleser scheint ein verbitterter Mensch zu sein.

Was heißt das nun für Parteien oder auch Firmen, die Meinungsbilder für zukünftige Schritte oder Aktionen nutzen wollen? Die Antwort ist denkbar einfach: Sie können sich nur darauf verlassen, dass diese Meinungen keinesfalls repräsentativ sind. Ein Großteil der Bevölkerung lässt sich aufgrund der Schieflage bei den Kommentaren nicht mehr zu selbigen hinreißen und ist verstummt, ein anderer Teil hat sich schon seit längerem im Schweigen eingerichtet. Wer also nur die zu Rate zieht, die sich lautstark äußern, wird keinesfalls die vorherrschende Meinung kennen. Im Gegenteil. Er driftet in eine von Vorurteilen bestimmte Parallelgesellschaft.

Um wirklich zu wissen, was der Großteil der Bevölkerung denkt, bedarf es einer tiefer gehenden Kommunikation, die sich von schnellen Statements und vermeintlich bissigen Vereinfachungen löst, sprich die im stillen Kämmerlein gedeihende „Häppchenkultur“ der Kurznachrichten und Postings auflöst, um miteinander ins Gespräch zu kommen.

Ein Beispiel: Die aktuelle Flüchtlingsdebatte. Nach der „Wir schaffen das“-Euphorie herrscht derzeit eine Hassstimmung, die das kriminelle Verhalten einiger Flüchtlinge in den Vordergrund stellt. Die CSU hat darauf reagiert. Horst Seehofer hat an einem denkwürdigen Wochenende ein beispielloses Mitternachtsduell mit der Kanzlerin hingelegt. Er berief sich dabei überdeutlich auf die vielen Meinungen derer, die im Netz tagtäglich von „Bevölkerungsaustausch“ und „Asylmissbrauch“, „Flüchtlingskriminalität“ und der AfD als einzig wählbarer Partei schwadronierten. Die Kurzzeitfolge: Seehofer positionierte sich als Hardliner und wurde ein paar Stunden lang im Netz bejubelt. Die Langzeitfolge: Die CSU schmierte in den Umfragen weiter ab. Die verdutzten Gesichter in der Parteizentrale kann man sich vorstellen. „Kruzifix, wie kann das denn sein?“

Hätte Seehofer womöglich besser kommunizieren müssen? Hätte er mit einem gesunden Menschenverstand nicht lieber zwischen den verschiedenen Lagern vermitteln sollen und so auch, endlich, die „schweigende Mehrheit“ erreicht? Wäre es nicht das Gebot der Stunde gewesen, als Vertreter einer christlichen Partei mit Menschlichkeit zu argumentieren? Eine Steuerung der Einwanderung kann nämlich durchaus menschlich sein, wenn sie akzeptiert, dass Menschen aus Fleisch und Blut, mit Sehnsüchten und Bedürfnissen zu uns kommen. Das hatte Seehofer in einer Pressekonferenz bereits einmal angesprochen, aber viel zu kurz. Verschiedene Menschen brauchen auch Betreuung – nicht nur durch staatliche Asylinstanzen, sondern durch die „ganz normale“ einheimische Bevölkerung. Das ist der Punkt, den Angela Merkel womöglich zu wenig bedacht hat, auch wenn das Schaffen in „Das schaffen wir“ nicht nur ein Verkraften, sondern eben auch ein Kooperieren und Unterstützen, womöglich sogar Kommunizieren, meinte.

Die Flüchtlinge spiegeln unser derzeitiges Kommunikationsproblem. Meinungen und vermeintliche Kommunikation finden im stillen Kämmerlein statt, ohne sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen. Statt aktiv auf einen Gesprächspartner zuzugehen, werden an Bildschirmen Situationen und Berichte studiert. Die „Indoor-Generation“ schließt von Zahlen und Sätzen auf Menschen und ihr Leben – und verirrt sich in der virtuellen Nachrichten-Realität. Es hilft nichts: Wir sollten diese „Gemütlichkeit“ aufgeben und uns als Kommunikationshelden wieder in den Sturm, sprich das wahre Leben, begeben. Dann wüssten wir, Politiker natürlich eingeschlossen, was andere Menschen wirklich denken und wie wir ihnen helfen können.

(Rüdiger Schmidt-Sodingen)