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Zettel und Stift

Veröffentlicht am 04.01.2022

Wie Ideen zu Texten werden




Als ich mit 17 Jahren begann, Texte zu schreiben, gewöhnte ich mir an, immer einen Zettel mit Stift neben meinem Bett liegen zu haben. Denn die besten Einfälle kommen manchmal mitten in der Nacht – oder kurz vorm Einschlafen. Oftmals notierte ich als junger Mann Sätze oder Titel blitzschnell und schlief dann selig ein. Die Idee war notiert, ich brauchte mir keine Sorgen mehr zu machen.

Mittlerweile ist die Sache etwas anders. Ich notiere mir zwar noch immer Ideen auf ein Blatt Papier oder aufs Smartphone – doch immer mehr merke ich, dass die Arbeit im Kopf dann erst beginnt. Denn die Ideen gehen sozusagen spazieren, finden neue Anknüpfungspunkte und suchen dann völlig neue Richtungen.

Wenn man älter wird, funktioniert das Schreiben etwa so wie bei Henry Miller: „Lass alles liegen, warte ab – und lass es dann explodieren.“ Ideen, die man vorab skizziert hat, vereinigen sich mit anderen Dingen, die man gehört, gelesen oder, noch besser, gesehen oder gefühlt hat. Zusammen können diese Ideen oder Sätze dann neue Wege gehen. Sie entwickeln ein Eigenleben, das sich nach dem Licht, nach anderen menschlichen Ideen und Erfahrungen streckt.

Ein guter Text ist für mich heute ein Text, der Wahrheiten ans Licht befördert und, das hat sich im Gegensatz zu meiner Jugend verändert, dazu möglichst viele Ideen von außen anschaut, bespricht und sichtbar macht. Wo ich früher dachte, dass die Pointe eines Textes oder Stückes nur aus mir selbst kommen kann, weiß ich heute: Die Zuspitzung, das überraschend Andere, das Einmalige kommt von außerhalb. Es im richtigen Augenblick zu hören und dann nur noch aufzuschreiben, macht die eigentliche Kunst und das Glück des Textens aus.

(Rüdiger Schmidt-Sodingen)