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Die Jungen und die Alten

Veröffentlicht am 25.03.2019

Sie wollen das Leben spüren? Dann setzen Sie sich mal öfter neben Kinder und Rentner



„Wie mächtig doch das Leben ist. Nie war mir das aufgefallen. Nie hatte ich Leben in der Art gespürt wie jetzt, als ich Mado Bidois wusch, eine wilde zornige Greisin.“
(„Das Tagebuch der Jane Somers“, Doris Lessing)


Manche müssen in Urlaub fahren oder irgendwelche Gipfel besteigen, um das Leben zu spüren oder sich lebendig zu fühlen. Sie nabeln sich dazu von ihren Mitmenschen ab. Was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, wie erstaunlich wenig man oftmals von Menschen in der sogenannten „Blüte ihres Lebens“ lernen kann. Der „tägliche Kram“ lässt uns nicht schön und stolz werden, sondern mickrig und klein. Statt mutig geradeaus zu den anderen oder nach oben in den Himmel zu sehen, starren wir ständig nach unten, auf Handydisplays und Kontoauszüge.

Ganz anders verhält es sich mit denen, die aus Altersgründen nach unten gucken, also mit kleinen Kindern und älteren Menschen. Sie können einem in wenigen Augenblicken vermitteln, wie wertvoll das Leben ist. Wenn Sie einem Kind dabei zusehen, wie es voller Freude etwas isst, ahnen Sie vielleicht, was ich meine. In den Anstrengungen des Kindes erkennen wir plötzlich uns selbst, unseren eigenen Körper, unser eigenes Atmen und Anstrengen. Ähnlich steht es um Senioren, die sich vorsichtig über die Straße bewegen oder mit zitternder Hand an einer Bank festhalten, um nach Luft zu schnappen.

Wir können getrost alle Karriere- oder Lebensratgeber zum Altpapier geben, wenn wir uns wieder etwas mehr Zeit zum Verweilen und Zuschauen nehmen. Wir lernen dann von Kindern und Rentnern ganz nebenbei, wie man sich mit Freude ins Leben wagt oder seine Mitmenschen mit einem Lächeln beschenkt – auch und gerade dann, wenn man es mit Schmerzen in den Beinen kaum weiter als bis zur nächsten Straßenecke schafft.

Als ich direkt nach der Schule meinen Zivildienst in einem Krankenhaus absolvierte, durfte ich auch viele ältere Patienten füttern oder betten. Und da beobachtete ich zum ersten Mal, wie einen die Sorge um einen anderen Menschen zufrieden und satt machen kann. Indem ich eine alte Dame langsam und geduldig fütterte, wurde ich selber satt. Indem ich sah, wie sie neben mir atmete und mich tapfer anlächelte, ahnte ich etwas von dem Band, das uns alle verbindet. Etwas, das ich später auch beim Kümmern um kleine Kinder spürte.

In Jean-Luc Godards Spielfilm „Elf Uhr nachts – Pierrot le fou“ muss sich Jean-Paul Belmondo als liebeskranker Bücherwurm Ferdinand durch eine oberflächliche Gesellschaft kämpfen. Irgendwann während seiner ganzen Leiden, zwischen der Leere der Stadt und dem Glück am Strand, setzt er alles auf eine Karte. Er, über beide Ohren unglücklich verliebt, hält kurz inne und sagt sich: „Ich fühle, dass ich lebe. Und das ist das Wichtigste.“ Der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert, der die letzten Jahre wegen einer Krebserkrankung nicht mehr sprechen konnte und über eine Magensonde ernährt werden musste, notierte am Ende: „Ich sehe nur einen Sinn im Leben, nämlich den, unserem Nächsten sein Leben etwas schöner und angenehmer zu machen.“

(Rüdiger Schmidt-Sodingen)